Regie-Notizen

Seit fast zwei Jahren trage ich den Wunsch in mir, Schillers Bürgschaft zu verfilmen. Die Idee, dass da zwei Freunde mit ihrem Treuebeweis über den Tod hinaus sogar das Herz eines Tyrannen bezwingen, den sie drei Tage vorher noch ermorden wollten, haut mich um.

Zur Annäherung an den Stoff habe ich inzwischen reichlich recherchiert. Dionys II. gab es wirklich. Die Freunde Damon und Phintias zählten zur berüchtigten Sekte um den Philosophen Pythagoras, der ca. 400 v. C. nicht nur mit gleichschenkligen Dreiecken, sondern auch mit seiner Freundschaftslehre in Syrakus auf Sizilien von sich reden machte. Seine friedfertigen Anhänger waren dem Tyrannen ein Dorn im Auge. Der heißblütige Damon kam dem Herrscher gerade recht. Dionys hoffte, an dem zum Tode verurteilten Attentäter, der seinen Bürgen verrät, ein Exempel für Feigheit und Verlogenheit der Freundschaftsprediger statuieren zu können. Doch das Experiment ging nach hinten los.

Lange hab ich gegrübelt, wie ich Schillers Verse ins Heute übersetze. Mehrere Schreibversuche scheiterten. Historisch wollte ich nicht erzählen. Doch das aktuelle Deutschland taugt in meinen Augen nicht besonders zur „Tyrannei“, auch wenn jede Demokratie zu wünschen übrig lässt.

Seit letzten Sommer engagiere ich mich im UnterstützerInnenkreis der Flüchtlingsunterkunft in der Straßburger Straße, Berlin. Ich bin ins Gründungstreffen reingerasselt und war, ehe ich mich versah, zur Hausaufgabenhilfe für den Freitag eingeteilt. Im Kindergemeinschaftsraum des Heims erwartet mich seither jede Woche Chaos pur. Als Lehrertochter musste ich alle hübschen Vorsätze des Unterrichtens über Bord werfen und mich den Gegebenheiten vor Ort anpassen.

Kinder jeden Alters wollen eine Aufgabe, Aufmerksamkeit, Herausforderung, Lob, und zwar wild durcheinander in allen erdenklichen Sprachen. Permanent zupfen drei Vorschüler an meinem Pullover, während ich einem Flüchtlingsmädchen von sechzehn Jahren das kleine Einmaleins zu veranschaulichen versuche… Die Freitagnachmittage in der Unterkunft möchte ich nicht mehr missen. Nach und nach fassen auch die Eltern meiner Schützlinge Vertrauen zu mir. Mein Horizont hat sich durch das winzige Ehrenamt extrem erweitert.

Eines Morgens war mir plötzlich klar, wie Die Bürgschaft heute funktioniert. In der Woche zuvor waren einige Familien aus der Straßburger Straße an den Stadtrand umgesiedelt worden. Sie erfuhren mittags, dass die Zimmer in drei Stunden geräumt sein mussten. Die Leute hatten keine Ahnung, was mit ihnen geschieht. Einige Kinder, deren Namen ich noch mühsam am Lernen war, waren freitags einfach nicht mehr da. Auch in den Willkommensklassen der Schulen in der Nachbarschaft fehlten sie. Die festangestellte Kindergärtnerin der Unterkunft hatte Tränen in den Augen, als sie von der Abholung erzählte. Dabei handelte es sich hierbei „bloß“ um den Umzug in ein anderes Lager. Wie muss es den Menschen ergehen, wenn sie erfahren, dass es ins „Drittland“ geht, wo sie Fingerabdrücke hinterlassen haben, oder zurück in die „sichere Heimat“?

Die Tyrannei, von der wir erzählen möchten, ist die Tyrannei der europäischen Abschottung gegen all jene Menschen, die bei uns Schutz, Frieden oder einfach die Chance auf ein menschenwürdiges Leben suchen. Während Europa seine Banken vor dem Untergang rettet, schaut es zu, wie im Mittelmeer Menschen ersaufen. Das begreife ich nicht.

Schillers pathetischer Schluss erlaubt uns, mit unserer Bürgschaft ein Stück Deutschland zu besingen, dass angesichts des Zulaufs, den die Pegida-Bewegung zur Zeit genießt, mindestens so große Aufmerksamkeit verdient. Das Deutschland der bunten Initiativen, der Willkommenskultur, das Deutschland derer, die dafür einstehen, dass ihr Land mit seinem Reichtum und seiner Geschichte die Türen öffnet und offenhält für Menschen in Not.

Kerstin Höckel, Januar 2015